Einführung
Das Psychologische Institut an der Berliner Universität wurde im Jahre
1900 gegründet, sein erster Direktor war der weithin bekannte
Musikforscher, Psychologe und Philosoph Carl STUMPF (1848-1936). Eine
Fixierung auf dieses Gründungsdatum blendet allerdings die interessante
Vorgeschichte einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin Psychologie
an unserer Universität im 19.Jahrhundert aus. An dessen Ausgang
etablierte sich eine empirisch-experimentelle Psychologie; die ersten
psychologischen Institutionen wurden investiert. Zur Zeit der Gründung
der vormaligen "Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin" (der
Lehrbetrieb wurde im Oktober 1810 aufgenommen) hatte Psychologie ihren
systematischen Ort in der Philosophie und wurde außerhalb dieser
vornehmlich in der Medizin behandelt. Die Physiologische (bzw.
Experimentelle) Psychologie formierte sich denn auch aus der Bündelung
von Linienzügen beider Gebiete. Ihre eigentlichen Begründer, Gustav
Theodor FECHNER( in Leipzig) und Wilhelm WUNDT ( zunächst in
Heidelberg, ab 1874 in Leipzig) waren von Hause aus Physiologen, dann
auch Philosophen.
Mit FICHTE,HEGEL und SCHELLING waren die Repräsentanten der deutschen
idealistischen Schule zeitweilig an die Berliner Universität gebunden.
HEGEL erreichte hier einen kaum zu übertreffenden Wirkungshöhepunkt.
Für die Verselbständigung unserer Wissenschaft war ihre Wirkung
allerdings ohne Belang. FICHTE lehnte eine empirisch begründete
Psychologie ab ("Die Wissenschaftslehre ist nicht Psychologie, welche
letztere selbst nichts ist.").
HEGEL hat die Psychologie als Teil seines Philosophischen Systems
ausführlich als Lehre vom subjektiven Geist (Anthropologie: Der Geist
in Abhängigkeit vom Körper ; Phänomenologie: Der Geist als sinnliches
Bewußtsein, Verstand, Selbstbewußtsein, Vernunft ; Psychologie: der
theoretische Geist als Intelligenz, der praktische als Wille, der freie
als Sittlichkeit ) berücksichtigt. Seine eigentümliche Terminologie,
das Verpönen einer "beobachtenden" Psychologie und seine strikte
Ablehnung der britischen Assoziationspsychologie, die zu den Grundlagen
der späteren Experimentellen Psychologie gehörte, verhinderten, daß
HEGELs Psychologie in den Gründungsdokumenten der Experimentellen
Psychologie berücksichtigt wurde.
SCHELLING, der seelisches Leben als Ziel und Endpunkt des
Naturprozesses auffaßte, entwickelte eine spekulative genetische
Psychologie des Bewußtseins, die ihre Wirkung hatte (z.B. auf den
Mediziner C.G.CARUS), zur Herausbildung einer empirisch fundierten
Entwicklungspsychologie aber nicht beitrug.
Wichtig für die Verselbständigung der Psychologie wurde dagegen ein
Philosoph der Berliner Universität, der erst nach HEGELs Tod (1831) ein
Extraordinariat erhalten konnte: Friedrich Eduard BENEKE (1798-1854).
BENEKE war 1822, wohl zufolge HEGELs Eingreifen, die venia legendi
wegen seiner empiristischen Haltung in der Moralphilosophie entzogen
worden.
Sehr bekannt und auch weit später noch zitiert wurde sein "Lehrbuch
der Psychologie als Naturwissenschaft" (Berlin,1833,4.Aufl.1877).
BENEKE trat für Empirie in der Psychologie ein, betonte die
Selbstbeobachtungsmethode im naturwissenschaftlichen Sinn und faßte
psychische Vorgänge als im strengem Kausalnexus verbunden auf.
Maßgeblichen Einfluß auf die Herausbildung der Experimentellen
Psychologie in Deutschland hatte Johannes MÜLLER (1801 - 1858), der von
1833 an das Ordinariat für Anatomie und Physiologie an der Berliner
Universität innehatte. Weltberühmt wurde sein "Handbuch der Physiologie
des Menschen für Vorlesungen." (Coblenz 1834, Band 1 und 184o, Band 2).
Besonders die Bücher "Physiologie der Nerven" (in Bd.1) ,"Von den
Sinnen" und "Vom Seelenleben" (in Bd.2) wurden für die Grundlegung der
frühen Experimentellen Psychologie unverzichtbar. MÜLLERs Leitsatz:
Nemo psychologus nisi physiologus (in seiner Dissertation, Bonn 1822)
findet hier prinzipielle und reichhaltige Stützung. MÜLLERs bedeutender
Schüler, Hermann v. HELMHOLTZ, hat nach 1850 mit herausragenden
Publikationen seinen Beitrag zum Methodeninventar der Experimentellen
Psychologie WUNDTscher Prägung geleistet (Reaktionszeitmessungen,
visuelle und akustische Wahrnehmungen). Besonders in seinen
Untersuchungen zur " physiologischen Optik" und zu den
"Tonempfindungen" war HELMHOLTZ auch deshalb so erfolgreich, weil er
die Doktrin von den "spezifischen Sinnesenergien" seines Lehrers
heuristisch ausschöpfte. Gewiß kann HELMHOLTZ nicht für eine Geschichte
der Psychologie an der Berliner Universität beansprucht werden, denn
seine für die Experimentelle Psychologie entscheidenden Leistungen
vollbrachte er während der Ordinariate in Königsberg, Bonn und
besonders in Heidelberg, wo WUNDT einige Zeit sein Assistent war.
Dennoch ist der Hinweis auf die fruchtbare Wirkung einer berühmten
Schule der Berliner Universität für die Fundierung einer neuen
Einzelwissenschaft nicht ohne Belang.
Wenn sich auch die Herausbildung der Experimentellen Psychologie nicht
an der Berliner Universität vollzog, von hier aus aber gewichtigste
Anstöße erfolgten, so nahm an der Berliner Universität die Begründung
der Völkerpsychologie ihren Ausgang. Es waren Heymann (Haim)
STEINTHAL(1823 - 1899) und Moritz LAZARUS (1824 -1903 ), die von
sprachwissenschaftlichen Untersuchungen ausgehend, eine Verbindung mit
der seinerzeit in Deutschland vorherrschenden HERBARTschen Psychologie
herstellten und so zu einer eigenständigen Psychologie gelangten, deren
Wirkung nicht unbeträchtlich war. Die breite Wirkung von STEINTHAL und
LAZARUS erhielt mit der 1860 von ihnen begründeten "Zeitschrift für
Völkerpsychologie" ( erschien bis 1890 in 20 Bänden ) eine feste
Grundlage.
Die eigentliche Geschichte der Experimentellen Psychologie an der
Berliner Universität beginnt mit Hermann EBBINGHAUS (1850-1909), der
das Gebiet zwischen 1880 und 1886 als Privatdozent, danach bis 1894 als
ao. Professor vertrat und ein kleines Labor begründete. Seine zwischen
1879 und 1884 durchgeführten experimentellen Untersuchungen zum
Gedächtnis wurden zu einem Markstein der neuen Psychologie. EBBINGHAUS
wird zum engsten Kreis der Begründer der Experimentellen Psychologie
gezählt. Gemeinsam mit A.KÖNIG ( Physiker und Physiologe an der
Berliner Universität ) begründete EBBINGHAUS 1890 die "Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane" in der dann die Arbeiten
der Experimentalpsychologen publiziert werden konnten.1908 wurde die
Zeitschrift dann geteilt und die Beiträge der Psychologen wurden fortan
in der " Zeitschrift für Psychologie" publiziert. Diese Zeitschrift
wird noch in der Gegenwart von einem Redaktionskollegium mit Sitz an
der Humboldt-Universität zu Berlin herausgegeben.
Im November 1880 wurde Rudolph Hermann LOTZE ( 1817-1881 ) aus
Göttingen auf einen Lehrstuhl für Philosophie berufen. LOTZE hatte mit
seinem Werk "Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele" von
1854 den Begriff einer Physiologischen Psychologie geprägt und ihrer
Etablierung vorgearbeitet. C.STUMPF hatte 1868 bei LOTZE promoviert und
sich 1870 auch in Göttingen habilitiert. LOTZEs Tod trat aber nach
schwerer Erkrankung bereits im Sommer 1881 ein.1882 wurde Wilhelm
DILTHEY (1833- 1911) auf den durch LOTZEs Tod vakanten Lehrstuhl für
Philosophie berufen.
DILTHEY wurde von Berlin aus einer der gewichtigsten Repräsentanten
der Geisteswissenschaften seiner Zeit. Sein Ziel war es, "eine
Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen zu begründen",
welche eine feste Grundlage zur Sicherung der Selbständigkeit der
Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften geben konnte.
Die kontemporäre Psychologie beanspruchte daher sein Interesse und in
EBBINGHAUS fand er den kompetentesten Diskussionspartner. 1894
publizierte DILTHEY seine "Ideen über eine beschreibende und
zergliedernde Psychologie", worin der experimentalpsychologische Ansatz
zur Untersuchung der geistigen Phänomene abgewiesen wurde und statt
dessen ein verstehender, hermeneutischer Ansatz gefordert wurde, ohne
jedoch den Wert verschiedenartiger empirischer Erkenntnisquellen in
Frage zu stellen. Im Dezember 1893 wurde Carl STUMPF als dritter
Ordinarius für Philosophie in der Nachfolge von Eduard ZELLER an die
Berliner Universität berufen und als Leiter des Psychologischen
Seminars bestimmt. EBBINGHAUS erhielt ein Ordinariat in Breslau. Von
dort publizierte EBBINGHAUS 1896 in der "Zeitschrift für
Psychologie..." eine scharfe Kontroverse zu den DILTHEYschen
"Ideen...". Die Folge war für die Positionierung der sich in
Deutschland als Psychologe verstehenden Wissenschaftler beträchtlich,
wurde doch seither zwischen einer
geisteswissenschaftlich-ideographischen und einer
naturwissenschaftlich-nomothetischen Psychologie unterschieden.